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Das Haus als Stadt - Siedlung Kalkbreite Zürich

Müller Sigrist Architekten | Zürich

Samuel Thoma

Der Neubau Kalkbreite Zürich liegt an städtebaulich prägnanter Stelle mit integrierter Tramhalle und wurde im Jahre 2014 fertiggestellt und bezogen. Die Wohn- und Gewerbesiedlung umschließt die Tramhalle und vereint die verschiedenen Nutzungen und Wohnformen in einer einzigen, kompakten Großform. Eine Erschließungskaskade verbindet Innen und Außen, begehbare Dächer und die Terrasse über der Tramhalle.

Die Siedlung wurde bezüglich Energie und Ökologie nach den Zielen der 2000-Watt-Gesellschaft erstellt und hat Vorbildcharakter für das genossenschaftliche Wohnen in der Stadt Zürich. Samuel Thoma, Partner bei Müller Sigrist Architekten erläutert den Entwicklungsprozess des Projektes und gibt Einblick in weitere Arbeiten des Schweizer Architekturbüros wie zum Beispiel die Kunsthochschule Dreispitz in Basel und die Siedlungen „mehr als wohnen“ und „Frohheim“ in Zürich.

Von Eidgenossen zu Wohnungsbaugenossen

Samuel Thoma von Müller Sigrist über ein Pionierprojekt in Zürich

von Gisela Graf, Freiburg | gisela graf communications

Das Jahr 2015 startete im Architekturforum mit dem Wohnungsbau – nicht nur in Freiburg ein wichtiges Thema. In den wachsenden Städten gibt es immer weniger Freiflächen, der Wohnraum wird knapper und teurer. Verdichtetes Wohnen bei gleichzeitig hohen Qualitäts-Standards ist gefragt. Single-Haushalte und kollektive Wohnformen existieren parallel, auch der Trend zum Teilen ist längst beim Wohnen angekommen. Architekten sind gefordert, Ideen zu entwickeln, die all diesen Bedürfnissen gerecht werden.

Eine interessante Mischung aus individuellem und gemeinschaftlichem Wohnen stellte Samuel Thoma, Partner des Zürcher Architekturbüros Müller Sigrist im gut gefüllten Architekturforum vor. Die „Kalkbreite“ in Zürich ist ein riesiger Wohnblock, eigentlich ein Quartier; ein freistehender, vieleckiger Solitär mit bis zu fünf Geschossen und vielen Funktionen. 88 verschieden große Wohnungen bieten Raum für 250 Menschen. Geschäfte und Unternehmen, Kneipen und ein Kino mit zusammen etwa 200 Arbeitsplätzen machen den Komplex zu einer kleinen Stadt in der Stadt. Möglich wurde dies durch eine Genossenschaft – eine Organisationsform, die bei den Eidgenossen eine lange Tradition hat.

Eine der größten baulichen Herausforderungen für die Architekten: dort, wo der Wohnungsbau die Fläche beanspruchte, befand sich schon seit dem 19. Jahrhundert ein zentrales Tramdepot, das erhalten bleiben musste. Als die eigens gegründete „Genossenschaft Kalkbreite“ 2007 das Baurecht erhielt, galt es, diese beiden Funktionen zu vereinen: die Depothalle der städtischen Verkehrsbetriebe wurde mit der Wohn- und Gewerbesiedlung regelrecht ummantelt. Als ob das nicht schon ungewöhnlich genug wäre, sah das Konzept vor, unterschiedliche Wohnformen vom Single-Haushalt über die WG bis zur Patchwork- oder Großfamilie über alle Generationen hinweg zu vereinen und mit einem lebendigen Gewerbemix zu verbinden. Die Siedlung sollte höchste ökologische und soziale Ansprüche erfüllen, barrierefrei sein und das gemeinschaftliche Wohnen bei größtmöglicher Individualität fördern.

Heute ist das Dach des Tramdepots ein öffentlich zugänglicher Innenhof, der von dem kompakten, von orange bis türkis changierenden Baukörper umschlossen wird. Zur Sonnenseite ist das Gebäude niedriger, sodass genügend Licht in den Hof einfallen kann. Die Gewerbeeinheiten befinden sich in den unteren Etagen rund um das Depot und puffern so den Lärm der bewegten Straße ab. Ab dem zweiten Geschoss, auf Höhe des Innenhofs, beginnen die Wohnungen, die mit einem inneren Erschließungsgang miteinander verbunden sind – wie eine Straße im Inneren, die hinauf zu den privaten Dachgärten mit Blick über die Stadt führt. Auf Höhe des Innenhofs findet auch der soziale Austausch statt: hier betritt man das Foyer mit Bibliothek, hier sind die Briefkästen, eine Kantine, ein Waschsalon und eine Kinderkrippe. Sitzungs- und Schulungszimmer bilden ein kleines «Kongresszentrum». Die kleineren Wohnungen bilden sogenannte Cluster und gruppieren sich um Gemeinschaftsräume. Alleine lebende Menschen können so ihre Privatsphäre wahren und trotzdem an einer Gemeinschaft teilhaben. Auch für ältere Menschen ist diese Mischung attraktiv, zumal im Haus auch spezielle Serviceleistungen wie Wäsche waschen, Reinigen, Einkaufen oder ein Postdienst angeboten werden. Die sogenannten „Wohnjoker“, große Zimmer mit eigener Toilette und Bad sind an eine Wohnung angeschlossen. Man kann diese Joker temporär für einige Monate oder sogar Jahre mieten, wenn plötzlich mehr Raumbedarf entsteht: etwa wenn das flügge gewordene Kind mehr Freiraum oder die Großmutter näher zur Familie ziehen möchte.

Ein derart flexibles Projekt verlangt nach Architekten, die die Vorgaben der Bauherren kongenial umsetzen können. Allein die verschiedenen Grundrisse von der Einzimmer- bis zur 9 ½ Zimmer-Wohnung, die hybride Nutzung, der Lärmschutz, das Bauen bei laufendem Trambetrieb – all das waren Herausforderungen, die die Architekten mit Bravour meisterten: Das im August 2014 eingeweihte Projekt hat Pioniercharakter.

Samuel Thoma, Müller Sigrist | Zürich

Das Architekturbüro Müller Sigrist besteht seit 2001 und beschäftigt rund 30 Mitarbeitende. Es hat bereits zahlreiche ausdrucksstarke Bauten und Siedlungen für öffentliche, gemeinnützige und private Bauträger realisiert. Weil das Büro langfristig und ressourcenschonend plant, gelingen ihm im doppelten Wortsinn ausgezeichnete Häuser und Siedlungen. Darunter befinden sich etwa die Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW in einer denkmalgeschützten Lagerhalle auf dem Basler Campus Dreispitz, die polygonale Festhütte, die wegen ihrer Zeltform Aufmerksamkeit erregt hat, sowie die genossenschaftlich organisierte Siedlung Frohheim.

Müller Sigrist Architekten | Zürich
www.muellersigrist.ch